Page 6 - Dialekt
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2 Jede Sprache bedingt eine eigene Weltsicht

Sprache kann auch als ein Resultat des Zusammenlebens von Menschen verstanden
werden. Sie ist somit Ergebnis gemeinsamer geistiger Aktivitäten. Mythen, Sitten, Bräuche,
Normen, andere Kulturgüter usw. gehen daraus hervor. Das gültige Struktur- und
Formensystem einer Sprache ist gleichsam ein Spiegel des Bewusstseins und Denkstils, die
ihrerseits umgekehrt wiederum durch die Sprache beeinflusst sind. Für das österreichische
Deutsch z. B. werden Merkmale bezüglich Wortschatz, -bedeutung, -bildung, Phraseologie,
Aussprache, Betonung und Grammatik beschrieben, die sich z. B. vom in Deutschland
gesprochenen Standarddeutsch teilweise nachhaltig unterscheiden können. Ausbildung,
Entwicklung und Veränderungen der Laute, Formen und Bedeutungen nahmen einmal in
Sprachleistungen und -erlebnissen einzelner Menschen ihren Anfang und wurden auch von
anderen Angehörigen dieser Gruppe übernommen.vi

So dürften mit der Zeit lokale und regionale Umgangssprachen entstanden sein, die als
Mundarten von den Bewohnern einer bestimmten Gegend bzw. Region als
Verständigungsmittel gebraucht wurden. Mundarten sind unter diesem Gesichtspunkt mehr
oder weniger als Sippen-, Stammes- und Regionalsprachen aufzufassen und weniger als
Standes- oder Berufssprachen. Sie stehen in engem Zusammenhang mit der lokalen bzw.
regionalen Identität und bilden dafür das geistige Fundament und Substrat. M. a. W., es
verbinden sich vor allem Menschen miteinander und gesellen sich zueinander, die dieselbe
Herkunft, Religion, Sprache, dieselben Werte und Institutionen haben.vii Dies wird u. a.
besonders in der Diaspora deutlich.

Sprache, Kognition und Kultur beeinflussen sich gegenseitig. Eine Sprache hat Einfluss
darauf, wie gedacht und die objektive Umwelt wahrgenommen wird (linguistische Relativität
bzw. linguistischer Relativismus, Whorf-Sapir-Hypothese). Demnach wird die Wahrnehmung
durch die Sprache(n), die man erwirbt, determiniert: „Wir zergliedern die Natur entlang von
Linien, die durch unsere Muttersprache festgelegt sind.“viii Was im Alltagsleben gesehen und
gehört, also wahrgenommen wird, hängt demnach davon ab, wie wir über die Welt sprechen.
Sapir geht sogar noch einen Schritt weiter und meint, unsere Sichtweise auf die Welt werde
durch unsere Sprache konstruiert und es gebe überhaupt keine ‚wirkliche Welt’, die wir
wahrnehmen könnten, ohne dass der Filter der Sprache uns sagt, was wir sehen und was es
bedeutet. Es sind somit die sprachlichen Kategorien, welche gemäß dieser Auffassung die
Grundlagen für die Gliederung und Klassifizierung der Umwelt gewissermaßen vorgeben
oder zumindest bereitstellen, was tatsächlich zutreffen dürfte, denn bekanntlich wird
Verhalten jeweils nach seinem psychischen Ausdrucksgehalt gedeutet und weniger bis nicht
durch objektive sachliche Wahrnehmungskriterien. Sprachliche Äußerungen bedürfen der
Einbettung in ein weitgehend eindeutiges semantisches Bezugssystem. Sprache und
Denken stehen somit hinsichtlich ihrer psycholinguistischen Funktionalitäten und bezogen
auf ein Sprachmilieu in einem soziokulturellen Zusammenhang, wobei derzeit die Tendenz
feststellbar ist, dass sich Sprachmilieus immer mehr angleichen.

Die Verwendung einer bestimmten Sprache hat unzweifelhaft Auswirkungen auf die
Denkweise und Wirklichkeitsverarbeitung. In der einzigartigen und nach derzeitigem
Forschungsstand mit keiner anderen Sprache verwandten Sprache des Volkes der Piraha
(sprich: Pidahàn) am Maici, einem Nebenfluss des Amazonas, gibt es z. B. keine
Bezeichnungen für Farben, Mengen, Zahlen und einfache Verwandtschaftsverhältnisse,
keine Rekursion, kein Passiv sowie keine Nebensätze. Vorstellungsvermögen und
Empfindungen sind durch die Unmittelbarkeit des Erlebens gekennzeichnet, d. h., Piraha
sprechen ausschließlich über Vorkommnisse, die sie selbst erlebt haben, sie kennen keine
grammatikalische Vergangenheit und Zukunft (hier sehr verkürzt dargestellt). Sie sehen sich

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