Page 12 - Dialekt
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Zweisprachigkeit (Diglossie) dar. Als Martin Luther auf der Basis der kursächsischen
(ostmitteldeutschen) Kanzleisprache bis 1522 die Bibelübersetzung vornahm und damit zur
Vereinheitlichung und Ausbildung einer im deutschen Sprachgebiet mit zahlreichen
unterschiedlichen Sprachformen allgemein verständlichen deutschen Gemeinsprache
wesentlich und nachhaltig beitrug, beschrieb er seine Vorgangsweise damit, man müsse den
Leuten „aufs Maul schauen“.

Das ist auch die psycholinguistische Methode, an die ich mich gehalten habe und wie es
wohl alle machen, wenn sie sich für Sprache im Allgemeinen und den Dialekt im Besonderen
interessieren. Ich habe mit den Leuten gesprochen, dabei ganz gut zugehört und hinein
gehorcht in die Reichhaltigkeit und Besonderheiten unserer Mundart.

Bei uns in Tirol ist in den meisten Fällen zumindest gegenwärtig immer noch eine Mundart
die eigentliche Muttersprache, auch wenn dies in den offiziellen Dokumenten und Statistiken
nirgends aufscheint und ausgewiesen wird. Auf Grund des Medienkonsums, der
vorgelesenen oder erzählten Märchen und Geschichten, des Tourismus, der allgemeinen
Mobilität und Lebensumstände erfolgen jedoch, im Unterschied zu früher, z. B. vor 60
Jahren, bereits häufige und frühe Kontakte mit der Standardsprache, welche spätestens in
Kindergarten und Schule die gängige Sprachform darstellt, die es sowohl mündlich als auch
schriftlich zu erlernen gilt, also in Wort und Schrift, und die unser weiteres Sprachverhalten
normiert.

Somit wachsen wir in Tirol eigentlich zweisprachig auf, gar nicht selten sogar mehrsprachig.
Wir müssen beispielsweise ja auch das Ostösterreichische und Wienerische verstehen, das
uns im Rundfunk und Fernsehen begegnet. Eine Umstellung, d. h. das Umschalten
(Switching) von der einen Sprachebene in die andere, fällt uns weitgehend leicht, natürlich
nicht jeder Einzelperson gleich. Die logische Folge davon ist die situationsangemessene
Verwendung von Standardsprache, Umgangssprache und Dialekt je nach sozialer Situation
und Funktion in der Kommunikationsabsicht.

Für einzelne Sprecherinnen und Sprecher kann dies Schwierigkeiten mit sich bringen, und
sie kommunizieren durchwegs in einer Sprachform, was u. U. natürlich auch problematisch
werden kann. Insgesamt ist jedoch im Gebrauch des Dialekts bzw. der Mundarten eine eher
rückläufige Tendenz festzustellen. Es wird daraus aber unschwer erkennbar, dass es
durchaus sinnvoll ist, das Bewusstsein für die Eigenarten und Besonderheiten unserer
Sprache einschließlich des Dialekts bzw. der Mundarten durch eine entsprechende
Sprachpflege zu fördern.

Der Dialekt war früher durchwegs die gesprochene Sprache der bäuerlichen und
handwerklichen Bevölkerung, vor allem der Landbevölkerung. Auf diesem Umstand beruht
die noch immer verbreitete Auffassung von Dialekt als Bauernsprache. Derartige
Abgrenzungen sind jedoch längst nicht mehr zutreffend. Die Bildungssituation ist mittlerweile
eine ganz andere geworden, die Arbeits- und Wohnbedingungen erfordern von den
Menschen zunehmende Mobilität, die geänderten Berufs- und Lebensverhältnisse, der
Tourismus und der Medienkonsum bleiben auch im Hinblick auf die Sprache, ihre
Entwicklung und Veränderung nicht folgenlos. Im Einzugsgebiet der Städte finden

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